Eine Mutter hat in ihrer Dillinger Wohnung ihre vier Jahre alte Tochter umgebracht. Die Frau habe das Kind vermutlich mit einem Kissen erstickt, teilte das Polizeipräsidium Schwaben Nord in Augsburg mit. Die 33-Jährige habe am Vortag selbst bei der Polizei angerufen und das Verbrechen gemeldet. Zum Tatmotiv machten die Beamten aus ermittlungstaktischen Gründen noch keine Angaben. Zur Tatzeit hatte sich die Frau mit ihrer Tochter alleine in der Wohnung in einem Mehrfamilienhaus befunden. Sie wurde festgenommen und legte bei ihrer ersten Vernehmung ein Geständnis ab. Die Staatsanwaltschaft beantragte Haftbefehl wegen Mordes.
WAS DAS LEISETRETEN, tonlose Umschleichen in einem Hause anbelangt, so bringe ich es zu einer achtbaren Meisterschaft. Ich bin gut unterrichtet. Mich bilden im Vorschulkinderheim die ersten Dielen aus. Verdienstvoll wie Wachhunde schlagen sie an. Boshaft treibt es ein Dielenbrettduo zur Küche hin, dem Reich der Köchin Blume. Nicht einfach, die zwei schmächtigen, so harmlos aussehenden Dielen zu überwinden. Durch viele Überwindungseinheiten schaffe ich mir einen Weg von meinem Bett aus zur Küche hin, erstelle mir ein Dielenraster, das knarrende Dielen in stockfinsterer Dunkelheit hell und rot signalisiert. Dielen, die launisch sind. Dielen wollen nicht gestört werden. Dielen achten streng auf Dielenzeit. Dielen verhalten sich in der Nacht anders als am Tage. Selbst wenn die Dielen unterhalb dicker Teppiche liegen, murren sie zur Nacht hörbar, wo sie am Tag verschwiegen liegen. Ich fahnde intensiv nach möglichen Gehwegen zum Flur hinaus, über das Dielengebiet hinweg, hin zu den Orten des geheimen Vorrates, der versteckten Extraportionen, die jedes kluge Kind im Heim anlegt und aufsucht, wenn ihm danach ist. Ich erbeute achtlos ausliegende, absichtsvoll abgelegte Süßigkeiten. Ich mache Bonbons ausfindig, trage die Beute in mein Versteck. Im ersten Kinderheim ist es das unterm Kopfkissen befindliche Matratzenloch. Im zweiten Kinderheim lege ich das Versteck weit hinter dem Mülleimer an. In das Maul nimm deinen Schuh, kommet wer daher, so fahr drauf zu, dann glaubt man, du seist Wu Wu, und kriecht ins Bett, lässt dich in Ruh. Trippel, trippel, trap, trab, trab, heut schließ ich die Tür nicht ab. Ich präge mir die Abfolge der einzelnen Fußsetzungen ein. Ich orientiere mich anhand der Musterungen, Astlöcher, Maserungen. Ich setze meine Fußpunkte gezielt, um all die unliebsamen, ketzerischen Dielen auszutragen; das leiseste Geräusch kann mich ausleuchten, mir einen Konkurrenten auf die Fährte setzen; der Hinterhältige, der Dielenbrettnebeneinsteiger, der mich auskundschaftet, sich meiner Techniken bedient, an meine Schätze zu gelangen sucht, sie sich einzuverleiben, sich zu bereichern, auf meinen ausgeklügelten Pfaden wandelnd. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, wer außer einem selbst noch so im Kinderheim unterwegs ist. Der Hausmeister kann auf geübten leisen Sohlen seinen Rundgang gestalten, sich im Hause umhören, überallhin seine gefürchteten flüchtigen Überprüfungsblicke senden.
In der Küche gelandet, die dielenlos lebt und knurrsicher gekachelt ist, sind andere Geräusche zu vermeiden. Ich nenne da das Klappen der Türen zu Pforten und Teilverhauen, zu den geheimen Fächern, Kleinstbunkern. Es bedarf bei den Türen und Luken einer fein trainierten Fingertechnik, dass sie dein Tun stillschweigend hinnehmen, sich nicht benutzt fühlen, sondern liebevoll hergenommen, von menschlicher Hand massiert wähnen, nicht boshaft werden, still in sich hineingähnen von der schlichten Behandlung durch Kinderhand.
Nichts vom kurzen Glück bleibt als Kürze, wenn das Unglück zuschlägt. Das Unglück im Kleinen ist genauso ein gewalttätiges und dramatisches, von Emotionen begleitetes Geschehen wie die große menschliche Katastrophe. In meinem Kopf ist bei solchen Worten das riesige Ölgemälde, Floß der Medusa genannt, das ich in einer Mappe aufbewahre, in den Zeiten der Adoption angelegt, die ich über die Jahre gerettet habe. Es hängt im Louvre. Ich werde es mir ansehen, wenn alles getan ist, das Buch der Mutter zugeschlagen werden kann. Dann werde ich den sterbenden Schiffbrüchigen entgegentreten und das Werk für mich erleben. Sein Meister hat es erst nach gründlichen Vorbereitungen angefertigt. Er schuf eigens Wachsmodelle der Körper. Er sorgte für die Fertigung des originalgetreuen Nachbaus des Floßes in seinem überdimensionalen Atelier. Ärzte waren ihm bei der Beschaffung von Körperteilen behilflich. Anhand Hingerichteter und Verstorbener schuf Gericault sein Lebenswerk, das Gericht hält über den menschlichen Körper.
Nach einem schrecklichen Vorfall in der Werkstatt ist meine Zeit in der Tischlerei so flink vorbei, wie ich mich zuvor in sie eingeführt sah. Zwei niedlichen jungen Katzen bin ich über den Hof nachgekrochen, in die Spänescheune, auf den Späneboden, diesen Katzen hinterher, von beiden eine mir wenigstens zu greifen, am liebsten beide, mein einziger Gedanke: ihnen nach. Ohne das strikte Verbot zu bedenken, die Stufen hinauf, suche ich von den zwei kleinen Kätzchen das langsamere zu fassen, berühre sein Fellchen. Versuche es zu packen und durch die Luke zu ziehen, als es mit mir plötzlich abwärtsgeht, ich durch den Boden rausche, mit all den Spänen durch den Bretterspalt falle, unten aufschlage. Es ist die wuchtige Maschine zu hören. Es gibt einen menschlichen Wehschrei. Blut fließt wohl. Die Maschine steht. Ich erinnere den blutigen Daumen, die Bandsäge, den Altlehrling, den Juniorchef, die Gesichter der hinzueilenden Tischlereigesellen, von denen einer auf mich weist, mich Derdawars nennt. Derdawars wird nie und nimmer einer von uns. Derdawars ist kein Handwerklicher, heißt es aus dem Mund des Meisters. Ich bekomme den Riesenkran in die Hand gedrückt. Ich kann mich nicht einmal von den Mädchen verabschieden, die beinahe so etwas wie meine zwei großen Schwestern geworden sind. Ich habe geschehen zu lassen.
Ich sehe mich hinfortgenommen. Die Tischlerfamilie sieht sich durch den Richterspruch des Handwerksherren von dem zukünftigen Sohnemann, Stammhalter, Nachfolger getrennt, wie man sich von einer Leihgabe trennt. Ich werde von der Frau Meisterin kurz gedrückt und an die Haushaltshilfe übergeben. Der Meister lässt sich nicht sehen. Die anderen Herrschaften schauen von hinter ihren staubigen Fenstern aus mir nach. Ich lasse mich den Weg von der Tischlerei ins Heim am langen Arm der Haushaltshilfe ziehen. Ich weine stille, innere Tränen. Nach außen weine ich nicht. Der hölzerne Kran ist mir von der Meisterin in die Hand gegeben. Die Gassen sein so enge, es war einmal ein Gedränge, es kommt mein lieber Sohn nach Haus mit seiner verliebten jungen Braut, die Mutter durch die Hecke ihren Arm tat sie ausstrecken, sei willkommen, mein lieber Sohn zu Haus mit deiner verliebten jungen Braut, führt die Braut zu Tische, trug auf gebratne Fische, dazu roten kühlen Wein, die junge Braut konnte nicht fröhlich sein, sie sah in alle vier Ecken, ist hier nicht ein Schlafbette bereit, darin ich kann ruhen eine kurze Zeit, so führten sie die Braut zu Bette mit Ciavier und Clarinette, mit Ciavier und mit Harfenspiel, die Braut, die hörte vor Weinen nicht viel, und als es drauf um Mitternacht kam der Bräutigam tat erwachen, da lag sie tot in seinem Arm, sie war ja tot und er war warm und ruft mit heller Stimme, Mutter bring mir ein brennend Licht, und da nahm er das Messer, und stach sich damit durchs Herze, es liegen zwei Verliebte im Blute rot, liegen im Blute rot. Die Heimschwestern müssen nach der missglückten Adoption den Weg zur Badestelle verlegen. Sie können mit mir nicht mehr in Gruppe an diesem Haus vorbei, ohne dass ich mich hysterisch benehme, mich zu befreien suche, herzzerreißend nach den beiden Mädchen rufe, von heftigen Anfällen zu Boden gerissen, in Zuckungen gerate. Sie müssen mich ohrfeigen, derb zu Verstand bringen, zumal mir die Luft zum Atmen ausgeht, ich blau anlaufe beim Anblick des Hauses aus Backstein, der lieblich/traurigen Erinnerungen wegen. Erinnerungen, die in mir Flammen werfen, mich innerlich verbrennen.
Das Rätsel um das ausgesetzte Baby ist gelöst. Der Vater selbst war es, der das Kind in der roten Sporttasche einer Schwester in der Westend-Klinik in die Hand drückte. Als der bis dahin unbekannte Mann am Sonntag um 12.30 Uhr mit der Tasche das Krankenhaus betrat, hatte ihn eine Überwachungskamera gefilmt. Mit diesem Foto suchte die Polizei nach ihm und der Mutter. Zwei Bekannte des Mannes haben ihn nun auf diesem Foto erkannt. Schon am späten Dienstagabend verhörten die Fahnder vom Landeskriminalamt den 53-jährigen Mann. Als er das erst eine Stunde alte Mädchen auf der Säuglingsstation abgab, hatte er noch behauptet, er kenne die Mutter nur flüchtig und habe mit dem Baby nichts zu tun. Nun gestand er, der Vater zu sein. Die 40-jährige Lebensgefährtin des Mannes hatte das Kind am Sonntagvormittag zur Welt gebracht. Auch sie wurde gestern in ihrer Charlottenburger Wohnung von Polizisten befragt und dann zum Arzt gebracht. Es geht ihr gut.»Die Eltern haben sich in einer Ausnahmesituation befunden«, sagt ein Polizeisprecher. Ermittelt wird gegen Vater und Mutter bislang nicht.»Es ist kein strafrechtlich relevantes Verhalten erkennbar. «Hätte der Vater beispielsweise die Tasche mit dem Kind vor dem Krankenhaus abgestellt, müsste er mit einer Anzeige wegen Kindesaussetzung rechnen. Das Baby bleibt weiter im Krankenhaus. Was mit ihm jetzt passiert, entscheidet das Jugendamt.
MEIN KOPF IST EINE PUPPENSTUBE. Ich trage ein Puppen-Ensemble durch die Kinderheimjahre, führe mit den Erfindungen kleine Traumspiele auf, bessere Geschichten als mit wirklichen Personen erlebt, fern dem richtigen Leben. Die Köchin. Der Busfahrer. Die Frau des Tischlers. Die Töchter des Meisters. Der Meister in seiner Tischlerei. So viele Menschen haben ein Spiel begonnen und es abbrechen müssen, die Spieler nach Hause geschickt, besser gesagt, sie haben immer nur eine Person nach Hause geschickt, mich; nach Hause in das Heim, das mein Zuhause blieb, weil sie mir in ihren Heimen kein Zuhause ermöglicht haben. Weil sie nicht spielen wollten, nicht loslegen, ein Stück inszenieren, aus dem Personal etwas Bühnenreifes schaffen, das Publikum findet, sie zuerst erfreut. Sie nehmen mich her, um mich zu testen, mit mir seelisches Casting abzuhalten. Einen Jungen, der die Bühne nicht kennt, nur das Heim, keine sieben Jahre alt, lassen sie antanzen, um ihn anzuschauen, rumzuschicken, zu beobachten. Fleischbeschau ist es, als müsste mein Fleisch ihnen als Nahrungsmittel dienen. Die Fleischbeschau wird von den Fleischbeschauern ausgeführt, die sich als potentielle Adoptionseltern vorstellen. Untaugliches Fleisch muss nicht vernichtet werden, das Heimkind kann an das Heim zurückgegeben werden, es kann sich dort dann als minderwertiges oder bedingt taugliches Freibankkind betrachten und wird unter anderen Voraussetzungen demnächst wieder ausgeliefert. Weck mir nicht die Mutter auf, nur nicht hust, nicht nies, nicht schnauf, nicht zu stolz renn mir herauf; wer hoffärtig, fällt leicht drauf, weck mir nicht die Martinsgans, tritt dem Hund nicht auf den Schwanz, schleiche wie der Mondenglanz, wie ein Floh im Hochzeitskranz, stoß mir nicht die Kübel um.
Ich spreche im Beisein der zwei Mädchen im Haus Sonne dann endlich mein erstes Wortgebilde. Plötzlich und unerwartet, wie aus dem Munde der Heimleiterin zu erfahren ist, beginne ich zu sprechen. Ich rede eine Doppelsilbe, mein erstes ma zu ma. Das mutterlose Kind sagt Ma-ma zur allgemeinen Verwunderung aller. Ma-ma rufe ich ins Haus. Ma-ma rufe ich im Spielgartenhinterhof. Ma-ma sage ich zu allem, was ich sehe. Ma-ma nenne ich die Türklinke. Mama nenne ich das Bett, die anderen Kinder. Sie sind alle aus dem Häuschen, sprechen die Flure hoch und runter, Treppe auf und Treppe ab von einem Wunder. Ma-ma sage ich und sie wissen, das wird ein gutes Jahr. Ma-ma sage ich, wenn sie wollen, dass ich es sage. Ma-ma sage ich, damit sie sich daran erfreuen. Ma-ma sage ich, weil sie sich um mich herumstellen und sich daran erfreuen. Die Heimleiterin findet den Umstand, dass ich mit dem ersten Sonntag des neuen Jahres Ma-ma sage, bemerkenswert. Ma-ma sage ich zu den beiden Mädchen. Mama wie Mama-lade, sagt das eine ihrer beiden Mädchen. Mama wie Mama-rine, albert das zweite Mädchen. Mama, behauptet die noch junge, entzückt aussehende Erzieherin, die heimlich zuckende Knietänze einstudiert und Elvis Presley meint, ihren Knieschwungapostel, geboren in East Tupelo, Mississippi; der Star, der seiner Ma-ma zum Geburtstag hat extra einen Geburtstagssong auf Platte pressen lassen. Ma-ma sage ich noch eine gute Weile, dann nutzt sich der Effekt ab, man winkt nur noch ab, wenn ich daherkomme und Ma-ma rufe.
ICH LEIDE am Verlust weiblicher Wärme. Hoffen und Bangen sind als unendliche Aktion auch eine Form von Wärmebildung. Hätte ich nicht Wärme gesammelt, mit Wärme gegeizt, jedwede Form von Hoffnung geheimst, mich an Wärme vergriffen, mir an Zukunft genommen, wo ich ihrer habhaft werden konnte, um nicht zu erfrieren, als Lichtlein nicht auszugehen nach dem Entzünden, Brüder, Schwestern, ich wäre in den Kinderheimen erfroren. Ich bin auf ewig das verklemmte Kind, das mit dem Verlust seiner Identität in die Rolle seines Doubles schlüpft, seine lebendige Zweitausgabe wird. Ich bin als Abguss mein Original. Ich bin ich meint, ich lebe in mir verborgen, mein Leben verläuft unterm Pseudonym. Ich spiele Rolle. Ich forme mich zur menschlichen Plastik. Ich denke mir die Heimleiterin als Mutter für mich. Ich bin ein Roboter. Ich funktioniere wie all die kleinen Menschenmaschinen um mich herum. Ich singe gern. Ich erfinde Melodien beim Spazierengehen. Ich singe in mich hinein. Man könnte sagen, der da ist Ausdruck von normaler Verhaltensstörung, ist das Produkt einer unentwegten Fehlentwicklung, keiner Person zuzuweisen, stets seine eigene Beeinträchtigung auf vielen wichtigen menschlichen Ebenen eine Niete, eins mit allen Kinderheimkindern dieser Welt.
Ich bin Niemand
und werde auch Niemand sein. Jetzt
bin ich ja zum Sein noch zu klein;
aber auch später. Mütter und Väter,
erbarmt euch mein. Zwar es lohnt nicht
des Pflegens Müh: ich werde doch gemäht.
Mich kann keiner brauchen: jetzt ist es
zu früh und morgen ist es zu spät.
Ich habe nur dieses eine Kleid, es wird dünn
und es verbleicht, aber es hält eine Ewigkeit
vielleicht.
Lied der Waise
MAMA. MAMBO. MAMBAS. Mamelucken. Mammut. Ich lerne weitere Worte sprechen, kann bald vollständige Sätze sagen. Es geht voran und es braucht Jahre, bis aus dem Zurückgebliebenen ein schulbereiter Junge gezimmert ist. Einen Test nach dem anderen muss ich zwischenzeitlich über mich ergehen lassen. Die Ärzte haben ihre transportablen Schreibmaschinen mit. Sie sitzen hinter mir und fragen mich aus. Sie hören mir zu, notieren was, schreiben auf, nehmen zu Protokoll und sind längst dazu übergegangen zu erkunden, wann ich anfange ihnen zu misstrauen. Du bist im Sprechzimmer, und es wird recht wenig mit dir gesprochen. Du bist in keinerlei Wohnlichkeit und siehst auf die Teppiche, auf denen ihre Schreibtische stehen. Weiche Teppiche für ihre Schuhe. Du stehst nackt und barfüßig vor ihnen, auf blankem Boden und nickst, wenn sie dich was fragen, in die Kegel ihrer Lampen gehüllt, deren Lichter sich unterschiedlich brechen und an den Wänden hinter ihnen seltsame Schatten bilden, die lustig zucken, was sie nicht mitbekommen, weil sie dem Ganzen ihre Rücken präsentieren.