Myschkin fuhrt Nastassia zur Vorderbühne und steigt mit ihr in ein Trapez, das aus dem Schnürboden herabgelassen wurde. Während die beiden langsam in die Höhe schweben, erklingen nur wenige Takte einer sehr zarten Musik.
Sei wahr und gib dem Schnee die Jahre zurück,
nimm Maß an dir selbst und laß die Flocken
dich nur von ungefähr streifen.
Auch dies ist die Welt:
ein früher Stern, den wir als Kinder
bewohnen; verteilt an die Brunnen
als Inhalt und Regen der Stunden,
als Vorrat von heiterer Zeit.
Auch dies ist schon Geist, eines armen
fröhlichen Spiels Einerlei, die Schaukel
im Wind und ein Lachen oben und unten;
dies ist das Ziel, von uns selbst
nicht besessen zu sein
und jedes Ziel zu verfehlen;
und auch dies ist Musik,
mit einem törichten Ton,
immer demselben,
einem Lied nachzugehen,
das uns ein spätres verspricht.
Fall nicht in den Tumult des Orchesters,
in dem die Welt sich verspielt.
Du stürzt, wenn du jetzt deinen Bogen
vergibst, und redest mit deinem Fleisch
eine vergängliche Sprache.
Doch Nastassia gleitet vom Trapez in Rogoschins Arme.
Vor einer riesigen roten Ikone steht eine Leiter, auf der Myschkin sitzt. Rogoschin liegt rücklings auf einer Pritsche, hört mit zunehmender Spannung der Erzählung Myschkins zu und beobachtet erregt, wie Myschkin langsam von der Leiter heruntersteigt.
Jedem meiner Augenblicke zähle ich einen fremden
Augenblick zu, den Augenblick eines Menschen,
den ich in mir verborgen trage zu jeder Zeit,
und sein Gesicht in diesem Augenblick,
das ich nie vergessen werde, mein Leben lang nicht.
(Kein Gesicht, das abends von innen reift!)
Bedeckt vom Reif einer Kerkernacht
und frostgrün, weht es dem Morgen entgegen,
mit dem Gitter über den Augen, die doch dem Himmel
einmal aufgetan waren.
Durch die kalten Gänge der Glieder verläßt den Gefangenen der Schlaf.
Die Schritte des Wärters hallen in seiner Brust.
Ein Schlüssel sperrt seinen Seufzern auf.
Weil er keine Worte hat,
weil keiner ihn versteht,
bringt man ihm Fleisch und Wein
und übt Nächstenliebe an ihm.
Er aber, versunken
in die Zeremonien des Ankleidens,
kann Wohltaten nicht begreifen,
auch nichts von der Vermessenheit
dessen, was befohlen ist.
Es beginnt ja ein langes Leben,
wenn die Tür aufgeht und offen bleibt,
wenn die Straßen in Straßen
münden und das Gefälle der Stimmen
des ganzen Volkes ihn hinunterträgt
an die Gestade des Blutmeers,
das von den verbrecherischen
Gerichten der ganzen Welt
mit Todesurteilen
gespeist wird.
Nun ist aber eine Gemeinsamkeit zwischen uns
und dem Urteil, das auch sagt, daß dieser Mann
mit einem vollkommen wahren Gesicht zu der einen
Wahrheit kommt, eh er den Kopf
genau auf das Brett legt
(obwohl sein Gesicht
weiß ist und ohne Bewegung,
und die Gedanken, die er denken mag,
sind vielleicht ohne Bedeutung, er sieht
nur den rostigen Knopf an der Jacke
des Scharfrichters).
Eine Gemeinsamkeit ist auch zwischen uns
und dem Verurteilten, da er uns zu überzeugen vermag,
daß dem Mord, den wir bereiten,
und dem Mord, der für uns bereitet wird,
die Wahrheit vorangeht.
Und es liegt einer vor mir,
und ich stehe vor einem
mit allen Möglichkeiten zu dieser Wahrheit
und mit dem Mut zu ihrem Leben
und zu unserem Tode.
Doch in meiner Sterblichkeit
kann ich nichts lehren
und könnt'ich's, so selbst
nur in dem Augenblick, von dem ich spreche,
und ich hätte in diesem Augenblick
nichts mehr zu sagen.
Jetzt springt Rogoschin auf und wirft Myschkin, der gegen Ende der Erzählung die unterste Sprosse erreicht hat, zu Boden. Es erklingt wieder die sehr zarte Musik. Verwandelt geht Rogoschin auf Myschkin zu, hebt ihn auf und hält ihn in den Armen. Sie tauschen ihre Kreuze.
Auf der leeren schwarzen Bühne ist in ganz dünnen, weißen Umrissen ein schloßartiges Haus aufgebaut. Durch das Haus ist eine gleichfalls weiße Ballettstange gezogen, an der Aglaja, in ein blendend weißes Tutu gekleidet, steht. Myschkin, der die Variation auf Puschkins Ballade vom armen Ritter auf der Vorderbühne mit dem Gesicht zum Publikum spricht, dreht sich zu Aglaja kein einziges Mal um, die jedes Mal, wenn der Text von der Musik — einem Ritornell — unterbrochen wird, an der Ballettstange ein kristallklares Ballettexercise vollbringt. Die Szene beginnt mit Musik.
Bürgschaft übernehm ich für einen,
der auf dieser Welt lebte vor langer Zeit
und als sonderbar galt, einen Ritter,
aber wie nenn ich ihn heute,
da's kein Verdienst ist, in Armut
und nicht auf Schlössern zu leben?
Sorglos kleidete er sich in die Tage,
bis einer um seine Schultern
franste und ihm ein Licht
auflud, in dessen Umkreis
die Scham nicht geduldet war
und der endliche Friede der Langmut.
Die den Krieg verdammen, sind auserwählt,
zu kämpfen in diesem Licht.
Sie streuen das Korn
auf die toten Äcker der Welt,
sie liegen in den Feuerlinien
einen Sommer lang,
sie binden die Garben für uns
und fallen im Wind.
Aglaja wiederholt zum ersten Teil des Ritornells ihre Variation.
In der Zeit der Vorbereitung mied ich die Städte
und lebte gefährlich, wie man es aus Liebe tut.
Später geriet ich in eine Abendgesellschaft
und erzählte von einer Hinrichtung. So fehlte ich abermals.
Meinen ersten Tod empfing ich aus der Hand eines Gewitters
und ich dachte: so hell ist die Welt und so außer sich,
wo ich die Wiesen verdunkle, schaufelt der Wind Erde
über ein Kreuz, laßt mich liegen mit dem Gesicht nach unten!
Blaue Steine flogen nach mir und erweckten mich vom Tode.
Sie rührten von einem Sternengesicht, das zerbrach.
Aglaja wiederholt zum ersten Teil des Ritornells ihre Variation.
Und ausgestoßen aus dem Orden der Ritter,
verwiesen aus den Balladen,
nehme ich einen Weg durch die Gegenwart,
zu auf den Horizont, wo die zerrissenen
Sonnen im Staub liegen,
wo die Schattenspiele
auf der unerhörten Wand des Himmels
zu Verwandlungen greifen und ihr
einen Stoff einbilden
aus dem alten
Glauben meines Kindergebets.
Wenn auch die Kränze entzwei sind,
abgesprungen die Perlen, wenn der Kuß
in die blauen Falten der Madonnen,
abgeschmackt nach den Ekstasen
so vieler Nächte, beim ersten Hauch
das Licht in den Nischen löscht,
trete ich aus dem schwarzen
Blut der Ungläubigen in mein eignes
und höre auf den Abgesang
einer Geschichte,
die unsre Opfer verachtet.
Aglaja wiederholt zum ersten Teil des Ritornells ihre Variation.
Mir will eine Schwäche, der Wahnsinn
willkommen ist, meinen Weg
vertreten und mich der Freiheit entziehn.
Hörig dem Sog, wich mein Fleisch
früh den Messern aus, die ich hob,
um es aufzureißen. Mit dem Hauch,
den es umklammert, will es hinab,
mit meinem Atem, den ich zurückgeben werde
zum Beweis, daß mein Mund
nicht gefragt hat nach meinem Leben
und den Bedingungen, unter denen
wir fiir die Schöpfung
zu zeugen haben.
Mit dem zweiten Teil des Ritornells endet die Szene, und Aglaja erstarrt auf der Spitze, in der letzten ihrer Attitüden.
Wir sehen eine Kurpromenade mit einem Orchestertempelchen im Hintergrund. Eine Gesellschaft von Vögeln hat sich hier versammelt — gemeint ist die Petersburger Hautevolee. Wenn der Vorhang sich öffnet, hält der Dirigent der kleinen Kapelle den Taktstock hoch. Die Vogelgesellschaft steht regungslos. Jeder ist in seiner Pose erstarrt, so daß die Szene den Eindruck eines kolorierten Druckes macht. Im Vordergrund steht Myschkin, der sich sehr fremd in dieser Umgebung fühlt.
Die leicht fliegen, werde ich nicht
beneiden, die Gesellschaft der Vögel,
die viele Orte berührt
und noch im raschesten Flug
voll Überdruß ist.
Myschkin geht ab. Der Dirigent des kleinen Orchesters bewegt seinen Taktstock zur Musik, und die erstarrte Vogelgesellschaft löst sich in eine «Kurpromenade» auf. Wenn die Musik endet, wenden sich alle dem Kapellmeister zu und applaudieren. Etwas vor Schluß des Tanzes treten Myschkin und Aglaja auf. Sie nehmen an dem Treiben teil und gehen dann zur Vorderbühne. Und Myschkin erklärt sich Aglaja.
Wo ich hinkam, fand ich mich unter Steinen,
wie sie ergraut und von Vertrauen befangen.
Mir ist gewiß, daß auch dein Gesicht
so alt herabfiel und sich neben mich legte
unter den eisweißen Wasserfall,
unter dem ich zuerst mein Bett aufschlug
und unter dem ich in meinem Tode
liegen werde, den Absturz
der Reinheit vor Augen.
Myschkin und Aglaja gehen ab. Es wird Abend. Einige Lampions leuchten auf, die Kapelle hört zu spielen auf, die Gesellschaft findet sich paarweise zusammen und verläßt die Bühne. Blaue Versatzstücke kommen von oben, und die Bühne wird von einem klaren Blau überströmt. Dann fliegt Aglaja herein, von weißen Tänzern gefolgt, und Myschkin erscheint ihr als Wunschbild in einem weißen Kostüm. Doch Nastassias Erscheinung tritt zwischen die Liebenden und trennt sie. Die blauen Versatzstücke werden weggehoben. Allein im nächtlichen Garten sieht Aglaja sich ernüchtert um und wirft sich weinend auf eine Bank. Myschkin, in realer Gestalt, kommt und kniet vor ihr nieder.
Ich habe Zutrauen gefaßt zum Verzicht.
Du weinst, weil ich dich meinen Wünschen vorziehe?
Du wählst ein kurzes Los: meine Zeit, und ich will
die Verheerungen aller Träume, mit denen
du schläfst und herausreichst aus der Welt.
Für dich habe ich keinen Trost.
Wir werden beisammen liegen,
wenn die Bewegung der Berge geschieht,
mit einem Steingefuhl, alterslos,
auf dem Boden der Nachtfurcht
und im Anfang einer großen Verstörung.
Einmal nur hatte der Mond das Nachsehn.
Ins Geäst unsres Herzens
fiel das einsamere
Licht der Liebe.
Wie kalt die Welt ist
und wie rasch die Schatten
sich auf unsre Wurzeln niederlegen!
Aglaja hört Myschkin verständnislos zu; ihre Erwartungen sind enttäuscht worden, sie springt auf und läßt Myschkin betroffen stehen. Die Vögel kehren in den nächtlichen Garten zurück, diesmal um Nastassia Filipowna versammelt, die durch ihre faszinierende Schönheit in einem herausfordernden Tanz alles in Atem hält. Dann stehen die beiden Frauen voreinander. Nastassia beleidigt Aglaja und wird von einem der Begleiter Aglajas wieder beleidigt. Myschkin geht ab, und die aufgescheuchte Vogelgesellschaft flieht. Das Licht ist auf den Vordergrund gerichtet, während die Kulissen fortgetragen werden; nur ein schwarzumkleidetes Podium mit zwei Seitenleitern bleibt auf der Bühne, und Aglaja und Nastassia tanzen mit schwarzgekleideten Partnern ihre Variationen, als kämpften sie mit unsichtbaren Floretten auf Leben und Tod. Wenn Myschkin zurückkommt, steigen die beiden Frauen auf je eine der Leitern und bedeuten ihm, daß sie seine Erklärung erwarten. Aglaja sieht Myschkins Zögern, wirft sich vom Podium herunter und wird von ihrem Partner weggetragen. Ehe Myschkin ihr folgen kann, bricht Nastassia wie leblos vor ihm zusammen. Er hebt sie auf und hält sie in den Armen.
Auf der leeren Bühne stehen, in schwarzen Kostümen, mit dem Rücken zum Publikum, Menschen mit Kandelabern, während Myschkin, zum Publikum gewendet, spricht.
Mit einem geliehenen Wort bin ich,
und nicht mit dem Feuer, gekommen
und schuld an allem, о Gott!
Es sind die Kreuze getauscht,
und das eine wird nicht getragen.
Schwach lob ich die Strenge
Deines Gerichts und ich denke
schon an Vergebung, ehe Du sie gewährst.
Wo die Angst in mir aufspringt
und Helle vor mir herwirft, entdeck ich
Schreckliches und meine Schuld
an allem, an dem Verbrechen,
mit dem ich noch diese Nacht
in Deine Nacht kommen muß,
und mein heilloses Wissen will ich
nicht preisgeben an mein Gewissen.
Sei Du die Liebe, ich bin nur in leisem
Fieber aus Dir hervorgegangen
und unter Fiebernden hinfällig
geworden. Deine Blindheit erkennend,
vor der wir eins sind im Dunkel,
bekenn ich, daß ich schuld bin
an allem, denn Du, seit Du uns nicht
mehr siehst, zählst auf ein Wort.
Ein roter Teppich wird herausgerollt. Myschkin dreht sich um und steht jetzt auch mit dem Rücken zum Publikum. Nastassia erscheint und versucht, auf die Vorderbühne zu Myschkin zu gelangen, doch Rogoschin springt einige Male, mit einem Messer in der Hand, dazwischen. Die schwarzen Gestalten fuhren an Ort und Stelle entsprechende Schritte zu einem Bolero aus. Schließlich ergreift Rogoschin Nastassia und trägt sie, mit dem Rücken zum Publikum, von der Bühne. Auch die schwarzen Gestalten gehen ab. Die Ikone senkt sich aus dem Schnürboden herunter. Myschkin steht ohnmächtig davor.